Fehlerkultur

Die Kunst, Fehler zuzulassen.

Bis gegen Ende des letzten Jahrhunderts dominierte in der Arbeitswelt ein hierarchischer Führungsstil mit einer Null-Fehler-Toleranz. Heute setzen moderne Unternehmen wie Google auf «fail fast, fail often»: Fehler als Chance, um zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Doch wie steht es um diese Kultur, wenn Fehler lebensbedrohliche Folgen haben können?

Folgende Geschichte trug sich in den 1950er-Jahren im Telegrafenamt in Bern zu: Eine junge Angestellte sollte ein Telegramm an die amerikanische Botschaft übermitteln. Doch aus Versehen schickte sie dieses an die Russen. Als sie den Fehler bemerkte, informierte sie sofort ihren Vorgesetzten. Da donnerte es im Grossraumbüro: «Wenn jetzt der dritte Weltkrieg ausbricht, ist das ganz allein Ihre Schuld!». Meine Schwiegermutter, die damals auf dem Telegrafenamt
arbeitete und die Szene miterlebte, erzählte diese Geschichte immer wieder gerne.

Von der Null-Fehler-Kultur…
In den 1950er-Jahren dominierte ein hierarchischer Führungsstil mit einer geringen Toleranz für Abweichungen. Im Fokus standen Effizienz und Produktivität – weiche Faktoren wie Motivation und Zufriedenheit der Mitarbeiter spielten eine untergeordnete Rolle. Viele Führungskräfte in der Nachkriegszeit hatten eine militärische Vergangenheit, was ihren Führungsstil prägte. Das Management setzte seine Beschlüsse über eine Top-Down-Befehlskette durch. Fehler wurden streng sanktioniert.

… zum Prinzip «fail fast, fail often»
Die Zeiten haben sich geändert. Moderne Unternehmen setzen auf einen partizipativen Führungsstil: Mitarbeitende werden aktiv in Entscheidungen einbezogen, sie bringen eigene Ideen ein und übernehmen Verantwortung. Auch der Blick auf Fehler hat sich geändert: Eine offene Fehlerkultur bewertet Fehler als Lernchancen. Das Management toleriert Fehler, um das Unternehmen weiterzuentwickeln. Ein Paradebeispiel ist Google, wo das Prinzip «fail fast, fail often» dazu dient, aus Misserfolgen Erkenntnisse für Innovationen zu gewinnen.

Positive Fehlerkultur führt zu Wettbewerbsvorteil
Wer kontinuierlich Ideen entwickelt und neue Technologien einsetzt, kann sich laufend an veränderte Marktbedingungen anpassen. Das ist ein entscheidender Wettbewerbsvorteil. In einer offenen Fehlerkultur können sich Mitarbeitende entfalten. Das fördert die Motivation und die Bindung an den Betrieb – ein zusätzlicher Trumpf in Phasen des Fachkräftemangels.

Und wenn keine Fehler passieren dürfen?
Doch wie sieht es aus, wenn Fehler lebensbedrohliche Konsequenzen haben können? Nehmen wir die Nukleartechnologie oder die Luftfahrt: Hier sind allerhöchste Sicherheitsstandards und strenge Protokolle notwendig, um keine Menschen zu gefährden. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – setzen viele solcher als «High Reliability Organisations» (HRO) bezeichneten Unternehmen auf eine offene Fehlerkultur. Dazu gehört, dass über alle Hierarchiestufen hinweg offen mit Fehlern umgegangen wird. Was können wir von ihren Erfahrungen lernen?

Arbeiten in einer risikoreichen Umgebung
Betrachten wir das Beispiel Kernenergie: Wer in einem Kernkraftwerk arbeitet, braucht ein ausgeprägtes Bewusstsein für Sicherheit und ein geschärftes Auge für mögliche Fehlerquellen. Diese Fähigkeiten werden laufend geschult. Dabei orientiert man sich an fünf wissenschaftlich erprobten Prinzipien, den sogenannten HRO-Prinzipien:

WACHSAMKEIT UND FRÜHERKENNUNG
Die Mitarbeiter sind aufmerksam und erkennen Abweichungen frühzeitig, bevor sie zu Gefahren werden. So wird etwa ständig überprüft, ob Maschinen, Pumpen und Ventile richtig funktionieren.

ABNEIGUNG GEGENÜBER VEREINFACHUNGEN
Komplexe Zusammenhänge werden bewusst nicht vereinfacht, um keine Risiken zu übersehen. Es ist grundsätzlich vom Worstcase auszugehen. Deshalb werden Routinekontrollen vollständig durchgeführt und nicht abgekürzt.

GANZHEITLICHES VERSTÄNDNIS FÜR DIE ABLÄUFE IM BETRIEB
Die Mitarbeiter haben den Blick für das grosse Ganze. Sie verstehen, wie die einzelnen Abläufe zusammenhängen. So wissen sie, welche kritischen Folgen etwa ein Druckabfall oder eine Temperaturveränderung in einem System auf das Gesamtsystem haben kann.

ANPASSUNGSFÄHIGKEIT
Kommt es zu einem Zwischenfall, reagiert das Team schnell und strukturiert, um den Normalbetrieb so rasch wie möglich wiederherzustellen. Dazu gibt es Abläufe, die regelmässig eingeübt werden.

RESPEKT VOR FACHLICHEM KÖNNEN
Entscheidungen werden nicht nur von Führungskräften, sondern auch von Fachleuten an der Basis getroffen. Oft kennen sie sich am besten mit dem spezifischen Problem aus.

Für den Arbeitsablauf bedeutet dies: Aufgaben werden in einem Briefing vorbereitet. Aus dem Briefing werden Massnahmen getroffen, um Fehlern vorzubeugen. Nach der Ausführung der Aufgabe folgt zwingend ein Debriefing: Was lief gut? Sind Fehler passiert? Falls ja: Warum sind sie passiert? Was können wir das nächste Mal besser machen? So werden die Mitarbeitenden für Fehlerrisiken sensibilisiert und für eine offene Fehlerkultur trainiert.

Fehler, Regelverstoss oder Sabotage?
Ein Fehler gilt in diesem Verständnis als ein unabsichtlicher Irrtum. Das ist ganz entscheidend für eine offene Fehlerkultur. Es wird erwartet, dass der Mitarbeiter seinen Fehler umgehend meldet, damit Massnahmen getroffen werden können. Was sich innerhalb dieses Bereichs abspielt, wird toleriert und nicht sanktioniert. Anders verhält es sich mit Regelverstössen oder Sabotage. Hier gibt es klare rote Linien.

Angstfreies Klima
Dies alles steht und fällt mit der psychologischen Sicherheit des Personals: Die Mitarbeitenden müssen wissen, dass sie ohne Angst vor Sanktionen über Fehler sprechen können. Das stellt hohe Anforderungen an die soziale und fachliche Kompetenz der Führungspersonen. In hochzuverlässigen Organisationen werden sie regelmässig für diese Aufgabe trainiert. Die Führungskräfte lernen, dass Fehler oft auf ungenügende Rahmenbedingungen zurückzuführen sind: Vielleicht wurde der Mitarbeiterin eine Rolle zugeteilt, die ihr nicht liegt, der Auftrag oder das Ziel ist nicht klar, es besteht Zeitdruck oder die Stimmung im Team ist schlecht. Diese tieferliegenden Gründe kommen nur zum Vorschein, wenn man angstfrei darüber sprechen kann.

Fazit: Leadership ist gefragt
Innovation, Agilität und Mitarbeitermotivation – es gibt zahlreiche gute Gründe für eine offene Fehlerkultur. Von den Erfahrungen hochzuverlässiger Organisationen aus Nukleartechnologie oder Luftfahrt lernen wir, dass ein offener Umgang mit Fehlern und ein angstfreies Arbeitsklima entscheidend für Sicherheit und Stabilität sind. Doch das ist kein Selbstläufer. Der Aufbau einer Fehlerkultur erfordert Geduld, Engagement und Zeit. Der entscheidende Punkt: Es braucht Führungskräfte, die zu den eigenen Fehlern stehen und eine Kultur des gegenseitigen Vertrauens schaffen. Reagiert die Führungskraft auf Fehler der Mitarbeitenden destruktiv, kann sich keine offene Fehlerkultur entwickeln.

 

Vier Elemente einer positiven Fehlerkultur

1. Transparenz: Fehler werden offen angesprochen und nicht verschwiegen, um daraus zu lernen und Verbesserungen anzustossen.

2. Lernorientierung: Fehler dienen als Lernchance und helfen, sich persönlich und als Organisation weiterzuentwickeln.

3. Verantwortung: Mitarbeiter übernehmen über alle Hierarchiestufen hinweg Verantwortung für ihre Fehler und helfen mit, Lösungen zu finden.

4. Psychologische Sicherheit: Das Management schafft ein Umfeld, in dem Mitarbeiter Fehler ohne Angst vor negativen Konsequenzen ansprechen können.